Info: Abgründe (aus der Wirklichkeit). Sine-Fono, Nr. 7, 1.1.1912, S. 11.
Übersetzung aus dem Russischen: Alexander Moskovic (Universität Trier); Redaktion: Martin Loiperdinger (Universität Trier)
Abgründe (aus der Wirklichkeit).
Sie standen vor dem Besitzer des Kinematografen und winkten mit ihren Hüten. In ihren Gesichtern stand der Ausdruck einer tiefen Erregung. Aufruhrs. Um die Seele des Kinobesitzers zu rühren, sprachen sie wie im Gebet:
„Wir sind im Namen der Bevölkerung zu Ihnen gekommen. Wir sind zu Ihnen gekommen, im großen Glauben an ihre Anteilnahme, in der Hoffnung auf Ihr Verständnis für die Bedürfnisse und Fragen der Bevölkerung.“
Seltsamerweise errötete der Kinobesitzer. Er fühlte sich unbehaglich.
„Wir haben kein Recht, etwas zu fordern, da Sie sowieso genug für die Bevölkerung tun. Aber wir sind nicht gekommen, um zu fordern, sondern um höflichst zu bitten und zu fragen.“
Der gerührte Kinobesitzer sagte: „Meine Herren, überbringen Sie der Bevölkerung, dass ich alles tun werde, was in meiner Macht steht.“
„Daran zweifeln wir nicht. Aber wir bitten Sie, etwas zu tun, was über Ihren Kräften steht. Sozusagen eine Bitte, die weiter geht als Ihre Kräfte.“
„Nun gut, meine Herren, ich bin bereit alles für die Bevölkerung zu tun. Worin besteht Ihre Bitte?“
Die Vertreter der Bevölkerung sahen einander stumm und bedeutungsvoll an. In ihren Augen brannte ein Feuer wie bei Menschen, die ihren letzten Einsatz auf eine einzige Karte setzen.
Dann sagten sie alle auf einmal:
„Abgründe!“
„Ich verstehe nicht“, sagte der Kinobesitzer.
Sie husteten: „ Wir bitten um ‚Abgründe‘. Zeigen Sie den Film ‚Abgründe‘ “
Der Kinobesitzer wurde wieder rot und fühlte sich unbehaglich.
„Und??“ – drängten sie ihn. „Was ist denn? Zeigen sie ihn? Sie können es doch nicht ausschlagen?“
„Ich, meine Herren, würde ja gerne, aber…“
„Was?? Reden sie! Spannen sie uns nicht auf die Folter!“
„Die Sache ist die – dieser Film ist schon alt, und ich weiß nicht, ob ich ihn noch einmal besorgen kann. Vielleicht ist er schon lange vernich…“
„Sprechen sie es nicht aus! Das kann nicht sein! Das ist grauenvoll!“
„Ich kann, meine Herren, eine telegrafische Anfrage machen.“
Sofort griffen sie in ihre Hosentaschen und zückten ihre Geldbörsen.
„Hier, für die Telegrafie. Für jegliche unvorhersehbaren Kosten.“
„Wofür denn, ich kann selbst…“
„Nein, nein, bitte, nehmen sie es, verschwenden sie keine Worte, senden sie ein Telegramm in alle Städte, in alle Büros, an alle Fachzeitschriften, scheuen sie keine Kosten!“
Am selben Tag wurden Telegramme in die ganze Welt gesendet. „Wenn Sie ‚Abgründe‘ haben, bitte unverzüglich zusenden.“
Eine Woche später standen die Menschen wieder vor dem Kinobesitzer.
„Und, was ist?“
„Hier – ich habe ihn!“
Sie fielen ihm um den Hals. Aber der Kinobesitzer senkte den Kopf und sagte traurig:
„Ich muss Sie vorwarnen: Unser Glück ist nicht vollkommen.“
„Was ist geschehen?“
„Der Bauchtanz ist nicht komplett. Er ist verblichen.“
„Was? Warum?“
„In irgendeiner Stadt wurde der Film beschädigt. Die Behörden haben die Vorführung beschädigter Stellen verboten, und so musste die Stelle geschnitten werden.“
„Ja…“, sagte einer aus der Bevölkerung philosophisch: „Es gibt kein vollkommenes Glück auf dieser Welt…“
„Wir werden damit zufrieden sein, was uns das Schicksal gegeben hat“, sagte ein anderer - nicht weniger philosophisch. „Es ist eine Sünde, zu murren.“
Am nächsten Tag erschien in den Zeitungen die rührende Nachricht: „Auf Wunsch des Publikums stürzte die überglückliche Bevölkerung in die Abgründe.“